Sauternes und Barsac:
Grands Crus Classés

VON CLAUDE PEYROUTET

Die berühmten natursüßen Weißweine des Sauternais entstehen 40 km südlich von Bordeaux zwischen dem linken Garonneufer und dem ausgedehnten Wald der Landes. Das kleine Anbaugebiet von rund 2 200 ha liegt in den Gemeinden Sauternes, Bommes, Fargues, Preignac und Barsac. Alle dort erzeugten Weine haben Anrecht auf die Ursprungsbezeichnung (AOC) Sauternes, doch in Barsac haben die Erzeuger die Wahl zwischen AOC Sauternes und AOC Barsac, die auf den gleichen Produktionsvorschriften beruhen.

Man hat diesen Weinen den Namen stehlen, doch nie ihren einzigartigen Charakter imitieren können, der nur erreicht wird durch winzige Erträge und ein kapriziöses Mikroklima, dem die typische Edelfäule zu verdanken ist. Die 26 Grands Crus von Sauternes und Barsac, die 1855 zur Weltausstellung in Paris klassifiziert wurden, sind die Hüter höchster Weinqualität im Sauternais. Mehrere Generationen verantwortungsbewusster Winzer haben es immer wieder verstanden, dieses legendendäre, aber aufwändige Elixier zu erzeugen, das sich selbst als Genuss genügt, aber auch für kulinarische Überraschungen sorgt.

Die geologische
Vorbestimmung des Terroir von Sauternes

Die glückliche Eignung des Sauternais für die Erzeugung natursüßer Weißweine beruht zunächst auf den geologischen Gegebenheiten der beiden Terroirs dieses Anbaugebiets.
Die Gemeinden Preignac, Fargues, Sauternes und Bommes, die das eigentliche Sauternais bilden, liegen am rechten Ufer des Ciron, eines Nebenflusses der Garonne, auf einem nach Osten abfallenden Plateau, dessen Grundsubstanzen Muschelkalk, Mergel und toniger Sand aus dem Tertiär bilden. Während der großen Eiszeiten im Quartär wurde dieses Substrat von enormen Kiesbänken bedeckt, die von der Garonne angespült wurden, die mehrmals ihren Lauf von Westen nach Osten änderte. Neueren wissenschaftlichen Untersuchungen nach soll es mehr oder weniger parallel verlaufende, oft mäandernde Flussbette gegeben haben, was die Bildung enormer Flussterrassen entlang geradliniger Ufer und die Ablagerungen an bogenförmigen Ufern oder unter dem Wasser erklärt. Durch die Klimaerwärmung schmolzen die Gletscher, der Meeresspiegel stieg an, die Strömung der Wasserläufe verlangsamte sich und Alluvione wurden abgelegt. Während einer neuen Eiszeit, sank der Meeresspiegel wieder, die Flussläufe strömten schneller und gruben sich ein neues Bett in den alten Ablagerungen. So erklären sich die terrassenförmigen Abstufungen und ihre geologische Komplexität. Die höchsten und ältesten Terrassen befinden sich im Westen, die niedrigsten im Osten.

Der meterhoch aufgeschobene Kies im Sauternais entspricht den Moränen, welche die Wasser der Garonne und ihrer Nebenflüsse aus den Pyrenäen und aus dem Zentralmassiv mitgebracht haben. Die größten, allerdings seltenen Steine sind fast einen Meter lang, deshalb gehen die Geologen davon aus, dass sie auf Eisschollen transportiert wurden. Im Allgemeinen handelt es sich um ovale, ein bis mehrere Zentimeter große Kiesel, die unter eine kalkhaltige oder tonige, meist aber sandige Matrix untermischt sind. Man erkennt deutlich weißen oder rosa Quartz, schwarzen Lydit und grünlichen Sandstein aus den Pyrenäen, Nagelfluh aus den Raum Albi und sogar Basalt und Vulkanbomben aus der Montagne Noire, die eine umfangreiche mineralogische Sammlung auf Château de Rayne-Vignau zeigt.

Die Erosion hat die Kiesanhäufungen in fünfzehn bis sechzig Meter hohe Erhebungen verwandelt, deren welliges Relief die Landschaft prägt. Sie werden sehr gut vom Ciron und mehreren Bächen entwässert, die Böden sind vorherrschend weiß und wärmen sich sehr zum Wohl der Reben schnell auf. Noch besser, die tagsüber von den Kieseln gespeicherte Wärme wird nachts wieder abgegeben: das vermindert die Frostgefahr. Die Wurzeln der Rebstöcke senken sich auf der Suche nach Wasser und Nährstoffen bis zu zehn Meter Tiefe ab, wo sie auf die ersten undurchlässigen Bodenschichten treffen. So befinden sie sich in gleichbleibendem Milieu, das weder durch starke Regenfälle noch durch sommerliche Dürre oder Schwankungen in der Nährstoffzufuhr beeinträchtigt wird.

Zwei Appellationen im Spiegelbild

SAUTERNES

Entstehung der AOC
30. September 1936

Weintyp
natursüßer Weißwein

Rebsorten
Sémillon, sauvignon, muscadelle

TERROIR
Gemeinden Sauternes, Bommes, Fargues, Preignac, Barsac

REBFLÄCHE
1.550 ha

MAXIMALER ERTRAG
25 hl/ha

Weinlese
Auslese der edelfaulen Beeren in mehreren Durchgängen

Most
mind. 221 g Zucker pro Liter

Wein
mind. 13% Gesamtalkohol, davon 12,5% vorhandener Alkohol

Produktion
33 000 hl/Jahr

BARSAC

Entstehung der AOC
30. September 1936

Weintyp
natursüßer Weißwein

Rebsorten
Sémillon, SauvignonBlanc, Muscadelle

TERROIR
Gemeinde Barsac

REBFLÄCHE
600 ha

MAXIMALER ERTRAG
25 hl/ha

Weinlese
Auslese der edelfaulen Beeren in mehreren Durchgängen

Most
mind. 221 g Zucker pro Liter

Wein
mind. 13% Gesamtalkohol, davon 12,5% vorhandener Alkohol

Produktion
15 000 hl/Jahr

In Barsac hat der Winzer die Wahl zwischen den AOC Barsac und Sauternes

 

Die Situation ist etwas anders in Barsac auf dem linken Ufer des Ciron. Auch hier sind die Böden für den Weinbau geeignet, aber aus anderen Gründen. Das Substrat ist ein Sockel aus verkarstetem Asterienkalk, also sehr rissig und wasserdurchlässig. Die Kies- und Sandanlagerungen zu Beginn des Quartär wurden von der Erosion abgetragen, übrig blieben nur wenige große Kiesel. Sie liegen verstreut über den für dieses Terroir typischen roten Böden, entstanden aus schwach tonhaltigem grobem Sand, den der Wind nach der Mindeleiszeit hierher geblasen hat. Mit einer Stärke von vierzig bis fünfzig Zentimetern sind die Böden also recht dünn und die Rebwurzeln senken sich schnell bis in das Kalkgestein hinab. Diese bodenkundliche Besonderheit rechtfertigt das Bestehen einer eigenen AOC Barsac.

Bei einem aufmerksamen Gang durch die fünf Gemeinden des Sauternais stellt man sofort fest, dass die besten Terroirs – dort wo der Boden mager und gut entwässert ist – von den Grands Crus besetzt ist. Die höchsten Erhebungen und die sonnigsten Kieshänge des Sauternais oder die ziegelroten Böden auf rissigem Kalkgestein in Barsac sind die unerlässlichen Voraussetzungen für das Entstehen eines großen Weins.

Das Dreigestirn der Rebsorten

Gletscher, Stürme und Flussläufe –der Ciron hat ebenfalls seinen Lauf nach Süden hin verändert – haben ihre Arbeit geleistet, doch ohne des Menschen Hand, der den Weinbau eingeführt hat und dabei die weißen Rebsorten bevorzugte, wäre dieser Landstrich nur Wildnis geblieben.

Die Rebsorte Sémillon stammt höchstwahrscheinlich aus dem Sauternais. Man findet sie im Anbaugebiet Bordeaux seit mindestens vierhundert Jahren und wegen ihrer Widerstandsfähigkeit gegenüber dem echten und dem falschen Mehltau konnte sie die Rebsorte Sauvignon verdrängen, als der Weinbau zwischen 1851 und 1885 von diesen Krankheiten fast zerstört wurde. Er ist unbestritten der König der Rebsorten bei den Grands Crus im Sauternais, macht er doch mehr als 80% , auf manchen Weingütern sogar 100% der Bestockung aus. Seine guten Eigenschaften kommen nämlich in Sauternes und Barsac voll zum Tragen. Da die Knospen im Frühjahr nicht alle gleichzeitig ausschlagen, können ihm späte Fröste nicht viel anhaben. Im Reifestadium setzt sich der Botrytis, jener winzige, die Edelfäule hervorrufende Pilz, an den dicken Beerenschalen der zylinderförmigen, weißgold gefärbten Trauben fest. Der Most hat große aromatische Finesse und einen leichten Muskatton. Gewiefte Verkoster stellen sogar Aprikosen- und Organgentöne oder ein rauchiges Aroma fest, was voraussagen lasse, dass aus diesem Most ein herrlicher Wein entstehen werde.

Der Sauvignon ist der brilliante Gefährte des Sémillon. Diese Rebsorte, die so hervorragende Weine in Pouilly, Sancerre und in Graves hervorbringt, fühlt sich auch im Sauternais wohl. Zwar schlägt sie spät aus und entgeht dadurch den Morgenfrösten im April, doch blüht und reift sie schneller als Sémillon. Der Botrytis befällt auch die feste Schale der eiförmigen, goldgelben Beeren dieser kleinen, kegelstumpfförmigen Trauben. Das milde, saftige Fruchtfleisch mit einem leichten Muskatton (und ausreichendem Säuregehalt) verheißt Gutes für den künftigen Wein. Ausreichend Gründe, die den Anteil an Sauvignon rechtfertigen, der bei den Grands Crus bis zu 20% ausmachen kann.

Die Dritte im Bunde ist die Rebsorte Muscadelle. Zwar stammt sie aus Bordeaux, doch wäre sie beinah wegen einer angeborenen Schwäche von der Bildfläche verschwunden. Auch sie ist eine späte Sorte und bleibt von späten Frösten im Frühjahr verschont, aber sie ist anfällig für Oidium und Graufäule. Können die großen, pyramidenförmigen Trauben der Graufäule entkommen, fangen die hellen, gesprenkelten Beeren die Edelfäule ein und ergeben einen sehr süßen muskatigen und leicht moschusartigen Most, der es ganz bestimmt verdient, in die Assemblage der großen natursüßen Weißweine einbezogen zu werden. Acht Weingüter verzichten ganz auf Muscadelle, bei anderen ist sie mit bescheidenen 2 bis 5% vertreten, im besten Falle 12%. Doch seit widerstandsfähigere Klone geschaffen wurden, hält sie auf einigen Weingütern wieder stärker Einzug.

Die Auswahl der Rebsorten und ihr jeweiliger Anteil ist ein wichtiges Merkmal für die Identität der Grands Crus Classés. Sicher ist sie abhängig von der Struktur und der Beschaffenheit der Böden und den besonderen Klimabedingungen, doch über die natürlichen Gegebenheiten hinaus war das Streben nach einem bestimmten Weintyp immer ein wesentlicher Faktor bei der Wahl der Rebsorten.

Die Edelfäule oder wenn der Nebel mit der Sonne spielt

Auch im Sauternais herrscht das gemäßigte Klima Aquitaniens. Der Winter ist feucht, doch nicht kalt, das Frühjahr regnerisch und mild – was das Austreiben der Reben beschleunigt, doch leider auch späte Fröste so gefährlich macht – der Sommer ist mäßig heiß. Dadurch gestaltet sich das Pflanzenwachstum sehr regelmäßig. Dies kommt den Weißweinsorten besonders zugute, denn so gibt es weder Zuckerüberschuss noch Säuredefizit. Doch nie sind die Reben vor einem Hagelschauer oder einem Gewitterregen sicher, die eine ganze Ernte zerstören können!

Sind die im Frühjahr und im Sommer vom Wetter ausgehenden Gefahren überstanden, setzt der Herbst ein, die magische Jahreszeit im Sauternais, die über Erfolg und Misserfolg des ganzen Weinjahrs entscheidet.

Denn jetzt setzt das besonderes Mikroklima des Sauternais ein. Ab Ende September steigt Morgennebel von der Garonne und dem Ciron, ihrem kälteren und schattigeren Nebenfluss, auf. Die Kiefernwälder lassen den Nebel nicht abziehen, er legt sich über die Weinfelder und die Feuchte fördert die Entwicklung des winzigen, auf den Beerenschalen vorhandenen Pilzes Botrytis cinerea. Doch hat die Sonne noch ausreichend Kraft, um die Nebel bis Mittag zu vertreiben. Blauer Himmel überspannt die Weinberge und die Sonne verströmt milde, wohltuende Wärme. Der Botrytis hat nur Zeit die Beerenschalen anzugreifen, die er richtiggehend durchbohrt, während das Fruchtfleisch unbefallen bleibt. Durch die porösen Beerenschalen verdampft das Wasser aus dem Fruchtfleisch, die Beeren trocknen ein und der Most wird konzentriert. Die Beeren haben zunächst nur braune Flecken, werden dann ganz braun, schrumpeln ein und sehen runzlig aus. Sie sind nun rôtis (gedörrt) oder edelfaul. Jetzt ist der Zeitpunkt der Lese gekommen.

Da die Trauben je nach Rebsorte, Lage des Weinbergs und auch Platz der Beeren innerhalb der Traube sehr unregelmäßig reifen, muss in mehreren Durchgängen (tri) gelesen werden. Bei jedem Durchgang werden nur die Trauben, Traubenteile oder Beeren gepflückt, die ausreichend eingedörrt sind. Meist beginnt die Lese Anfang Oktober und kann bis November, in extremen Fällen sogar bis Dezember dauern. Die Grands Crus lesen meist in fünf oder sechs Durchgängen, im Extremfall sogar in neun oder zehn Durchgängen. Für die Lese heuert man Erntehelfer aus der Umgebung an, die sich auf die Arbeit verstehen und umsichtig die edelfaulen Beeren mit spitzer Schere herausschneiden. Die Arbeit geht nur langsam voran, es herrscht nicht die bei der Weinlese sonst übliche laute Fröhlichkeit, sondern ernsthafte Stille, fast wie bei einem religiösen Ritus. Lesemaschinen kommen nicht in Frage. Keine Maschine, kein Roboter können das geschulte Auge und die sichere Entscheidung eines Erntehelfers ersetzen.

In manchen Jahren stellt sich der Botrytis nicht oder nur mangelhaft ein. Dann ist es unmöglich, einen wahrhaft natursüßen Wein zu erzeugen. Setzt Regen ein und hält er auch noch an, kann das die ganze Lese zunichte machen, denn der Botrytis kehrt zu seinen niederen Instinkten zurück und lässt bloß Graufäule entstehen. Wer einen natursüßen Wein höchster Qualität erzeugen will, muss Opfer bringen. Ihr Preis, den wenig informierte Verbraucher zu hoch finden, ist durch das ständige Risiko und den Zeit- und Kostenaufwand für die Handarbeit gerechtfertigt. Außerdem sinken die Erträge, die per Verordnung auf 25 hl/ha begrenzt sind, bei den Grands Crus auf 15 oder gar 10 hl/ha ab.

Botrytis cinerea, ein launischer Pilz

In Sauternes und Barsac werden die Trauben erst geerntet, wenn sie faul sind. Faul? Sie haben richtig gehört: sie müssen faul sein, aber „edelfaul“. Die Beeren sind dann violett, schrumplig, eingetrocknet und von einem weißen Flaum bedeckt, der an Asche erinnert, daher der Name Botrytis cinerea (aschige Traube) des mikroskopisch kleinen Pilzes, der dieses merkwürdige Phänomen hervorruft.

Zwei Voraussetzungen sind unversichtbar: die Trauben müssen perfekt reif sein und es muss das tägliche Wechselspiel von Morgennebel und nachmittäglichem Sonnenschein geben. Erst dann greift dieses Kleinlebewesen nur die Beerenschalen an.
In den Schalen entstehen dadurch Risse und Löcher, durch die das im Fruchtfleisch enthaltene Wasser verdunstet, die Beeren trocknen ein, die Inhaltsstoffe im Most werden konzentriert. Da der Botrytis für seinen Stoffwechsel mehr Säure als Zucker umsetzt, wiegt der Zucker in den Beeren vor und der Most wird süß. Gleichzeitig synthetisiert er Glycerol, Voraussetzung für vollmundige und geschmeidige Weine. Doch der Pilz treibt es noch schlimmer: er fixiert teilweise Stickstoff und baut das Antibiotika Botryticin auf, was die Arbeit der Hefen bei der Gärung keineswegs vereinfacht. Aber das ist noch nicht alles, der fintenreiche Botrytis befällt selten die ganze Ernte auf einmal. Er arbeitet sich Beere für Beere vor, setzt sich an einzelnen Beeren fest und zwingt damit die Weinleser, eine Beerenauslese zu betreiben. Sie müssen also mehrmals durch die Reihen gehen und lesen jeweils nur die ausreichend eingetrockneten Trauben oder Beeren.

Sollte es während der Lesezeit regnen, ist die Ernte in Gefahr, denn das Regenwasser dringt leicht in die Beeren ein und senkt damit den Zuckergehalt. Da kann man dann nur hoffen, dass es aufhört zu regnen und die Sonne den Schaden behebt. Anhaltende Regenperioden machen alle Hoffnungen zunichte. Aus der Edelfäule wird Graufäule und die Beeren platzen auf. Ist es während der Schönwetterperiode gelungen, guten Most zu gewinnen, besteht doch noch Aussicht auf eine kleine Menge Wein, der sich der Klassifizierung von 1855 würdig erweist.

Das Geheimnis der Weinbereitung liegt in passionierter Akribie

Wir verdanken also die spärlichen Erträge und die damit einhergehende Zuckerkonzentration und Erhöhung des Aromareichtums zum Teil dem Botrytis, denn er ist in der Lage eine mögliche Ernte von 40 hl/ha auf etwa 18 hl zu reduzieren. Doch auch der Botrytis kann aus substanzarmem Traubengut, wie man es bei hohen Erträgen erhält, keinen guten Wein machen. Der Winzer greift deshalb von Anfang an mit Kulturmaßnahmen ein, um die Erträge zu verringern. So beträgt die Pflanzdichte meist 6 500 bis 7 500 Stock pro Hektar. Dünger wird nur eingebracht, um den Humus im Boden im Gleichgewicht zu halten. Vor allen Dingen werden die Reben stark zurückgeschnitten und man hält sich dabei an die traditionelle Regel, dass ein Rebstock ein bis drei Glas Wein erzeugt. Der Sauvignon wird meist im einfachen Guyotschnitt mit fünf bis sechs Augen erzogen. Bei Sémillon und Muscadelle überwiegt deutlich der Palmettschnitt. Es handelt sich dabei um eine Abwandlung der Gobeleterziehung mit zwei bis drei Zweigen in der gleichen Ebene, die an einen Drahtrahmen gebunden werden. Jeder Zweig trägt einen Rebzapfen, der auf zwei bis drei Augen zurückgeschnitten wird, so dass man nur sechs bis acht Trauben erhält.

Mit der gleichen Akribie wird im Keller von der Lesegutannahme bis zur Abfüllung vorgegangen. Das zeigt sich in den Entscheidungen für Kelter- und Gärmethoden, die entweder altehrwürdige Traditionen einhalten oder sich die neuesten Erkenntnisse der Önologie zu eigen machen, dieser sanften, fast humanistischen Wissenschaft vom Wein, die lieber vorbeugt als Abhilfe schafft. So wird auf manchen Weingütern chargenweise vinifiziert, wobei die Ernte eines Tages eine Charge darstellt. Anderswo nimmt man den Brauch wieder auf, Moste mit außergewöhnlich hohen Oechslegraden für eine besondere Cuvée getrennt zu vinifizieren. Wieder andere Güter lesen die Sauvignontrauben schon bei normaler Reife, weil sie aromatische Finesse und Säure erhalten wollen, die den Wein frischer und stahliger machen, während die Verfechter eines gehaltvollen, alkoholbeladenen Sauternes den bestmöglichen Befall mit Edelfäule abwarten. Für die spätere Assemblage werden die Rebsorten jedoch überall getrennt gekeltert.

Nur auf wenigen Weingütern wird das Traubengut zuerst gemahlen. Meist wird es direkt gekeltert. Das erfordert sorgfältige Einstellungen, egal ob traditionelle Vertikal- oder Horizontalpresse oder moderne pneumatische Presse. Die erste Pressung liefert drei Viertel des Mosts mit guten geschmacklichen Eigenschaften, doch den zuckerhaltigsten Most erhält man bei den beiden folgenden Pressungen. Man keltert so schonend wie möglich und der Lohn dafür ist ein stahliger, duftiger Saft. Bevor die Gärung einsetzt, wird er über Nacht leicht entschleimt.

Die Gärung wird durch Eigenhefen ausgelöst und findet in kleinen Edelstahltanks mit Wärmeregelung oder in Holzfässern statt.
Dabei wird der Gärvorgang genau kontrolliert und die Art, wie man den Gärvorgang ablaufen lässt, ist die logische Folge der zuvor getroffenen Auswahl der Chargen und Moste.

Der Gärvorgang dauert meist zwei bis vier Wochen. Im Sauternais ist er immer eine knifflige Etappe, denn die Edelfäule hat Veränderungen im Most hervorgerufen. Es mangelt an Stickstoffverbindungen, nach dem Entschleimen sind weniger Hefekolonien vorhanden, denen außerdem das Antibiotika Botrycin zu schaffen macht. Man hilft der Hefe, indem man die Gärtemperaturen zwischen 20 und 22°C hält. Die Gärung stoppt im Prinzip von allein, wenn der Alkoholgehalt so hoch ist, dass er die Hefe inhibiert oder abtötet. So lauten die harten Naturgesetze! Ideal ist ein tatsächlicher Alkoholgehalt von 13,5%vol. oder 14%vol. und ein Restzuckergehalt von 4 bis 6 weiteren potenziellen Volumenprozenten.

Der Ausbau von Grand Crus nimmt viel Zeit in Anspruch: in den meisten Fällen achtzehn Monate bis zwei Jahre, manchmal auch drei Jahre. Das ist die eigentliche Entstehungszeit des Weins, der in kleinen Tanks oder in meist neuen Eichenfässern ausbaut. Natürlich hat jedes Weingut seine „Betriebsgeheimnisse“. Stets geht es jedoch darum, das Zusammentreffen von Wein und Eichenholz harmonisch zu gestalten, denn das Holz überträgt Gerbsäuren und Duftsubstanzen von Vanille bis Lakritz, von Gewürznelke bis Nelkenblüte an den Wein. Vor der Zusammenstellung der einzelnen Gebinde wird immer wieder verkostet und manchmal lässt sich die schwere Entscheidung nicht vermeiden, einen Jahrgang als Cru Classé 1855 ausfallen zu lassen, weil das Potenzial des Weins für diese verdienstvolle Bezeichnung nicht ausreicht.

Während des Ausbaus müssen die Fässer immer wieder regelmäßig aufgefüllt werden, denn der Wein zieht sich zusammen oder er verdunstet durch die Fasswände. Zuviel Kontakt mit der Umgebungsluft könnte den kostbaren Nektar oxidieren. Nach den Abstichen von einem Fass ins andere muss er durch Schönen oder vorsichtiges Filtern vor dem Abfüllen geklärt werden. Diese Arbeiten werden in aller Ruhe ohne jede Hektik durchgeführt. Soviel Respekt vorm Wein mag den Laien immer wieder überraschen, doch gehört er im Sauternais zu den unerschütterlichen Traditionen.

Die Herkunft des Sauternes: Geschichte oder Legende?

Welcher vom Anblick der präzise in Reihen gelagerten Fässer erstaunte Besucher stellt in einem Weinkeller nicht die Frage an den Kellermeister: Seit wann werden solche Weine hergestellt?

Der Kellermeister lächelt verlegen, sagt, dass man nichts Genaues wisse und dass viele ungelöste Rätsel existierten; am Ende erzählt er jedoch zwei Gründungsgeschichten.

Die erste stammt aus dem Jahr 1836. Der aus Deutschland stammende Weinhändler Focke in Bordeaux wartete das Ende einer langen herbstlichen Regenperiode ab, um mit der Lese seines Weingutes Chateau La Tour Blanche in Bommes zu beginnen. Nachdem sich die Sonne wieder zeigte, trockneten die Trauben, wobei sich Edelfäule entwickelte. Der auf natürliche Art und Weise süße Wein wurde zu einem großen Erfolg. Kurz gesagt: der Zufall und lange zurückliegende Erinnerungen an die am Ufer des Rheins üblichen Auslesen waren ausschlaggebend. Bei der zweiten Geschichte spielt auch der Zufall eine Rolle. Im Jahre 1847 verspätete sich der Besitzer des Weinguts Yquem, Marquis de Lur-Saluces, bei der Heimreise von Russland. Er hatte aber den Befehl erteilt, mit der Lese bis zu seiner Rückkehr zu warten. Was für ein Wunder! Der Wein gelang verblüffend gut wegen der in diesem Jahr besonders starken Edelfäule.

Das sind zwei nette Anekdoten, doch die wahre Geschichte ist viel komplexer. Schon Ende des 16. Jahrhunderts kauften die den Seehandel beherrschenden holländischen Kaufleute speziell Weißwein auf. Aus trockenen Weinen wurde Branntwein gebrannt, den lieblichen Weinen wurde ohne Umschweife Zucker, Alkohol und Pflanzen zugesetzt, denn die nordische Kundschaft bevorzugte süße Getränke.

Im 17. Jahrhundert waren viele Holländer in Bordeaux und auf den Weingütern ansässig. Es ist bekannt, dass sie in der Vogtei Barsac liebliche Weißweine mit viel Restzuckergehalt, aber ohne jede Edelfäule, anbauen ließen. Diese Vogtei entsprach ungefähr den heutigen AOC Sauternes und Barsac und war wegen ihrer Weine sehr bekannt. So legten schon 1613 die Bürger von Barsac schriftlich „die Usancen und Privilegien“ dieser Lage fest. 1647 setzten die Stadtverwaltung Bordeaux und die holländischen Händler gemeinsam eine Preisliste von Weinen fest, in welcher die fünf heutigen Gemeinden des Sauternes in den zweiten Rang von 84 bis 105 Pfund einstuft wurden, gleich nach den Rotweinen aus Lagen entlang der Gironde (95 bis 105 Pfund). Genaue Schriften von 1666 bestätigen sogar, dass in den Gegenden von Sauternes und Bergerac Spätlesen praktiziert wurden. Aber waren sie edelfaul?

Am Ende des 17. Jahrhunderts hatten zwei Drittel der heute bestehenden Güter Weinberge entwickelt oder neu angelegt. Es war der ortsansässige Adel, der in diese großen Weingüter investierte. Diese Tendenz ging bis ins 18. Jahrhundert, obwohl um die Zeit von 1740 die Weine der Gegend billiger waren als die Weine der nördlichen Graves und des Medoc, die mit 1500 bis1800 Pfund viermal höher notiert wurden. Jedoch waren die Süßweine des Sauternes und Barsac wertvoller als die zum Brennen verwendeten trockenen Weine aus dem Entre-Deux-Mers, wofür die Holländer nur die Hälfte bezahlten. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts befand sich die Hauptzone des Weinanbaus parallel zur Garonne. In den Jahren 1770 bis 1810 entwickelte sie sich im Hinterland auf den kiesigen Anhöhen von Bommes und Sauternes. Die Rolle der Familien Sauvage d’Yquem und später Lur-Saluces, Besitzer von Yquem, St Cricq, Filhot und Coutet, erwies sich als entscheidend in der Auswahl der Parzellen, der Rebsorten und der Lese überreifer Trauben in mehreren Durchgängen. Jefferson, der zukünftige Präsident der Vereinigten Staaten, hatte sich 1787 bei seinem Besuch in Bordeaux nicht getäuscht, als er nach seiner Rückkehr nach Amerika mit Hilfe des amerikanischen Konsuls in Bordeaux 85 Kisten Wein zu je 12 Flaschen bestellte, darunter Sauternes vom Comte de Lur-Saluces. In seiner persönlich erstellten Klassifizierung vergass Jefferson die süßen Weine von Barsac, Preignac und Sauternes nicht. Schon 1741 hatte der Gouverneur der Provinz Guyenne geschrieben, daß deren Lese erst vorgenommen werde, „wenn die Trauben fast verfault sind“. Außerdem fügte der Gouverneur hinzu, daß „mehrmals hintereinander gelesen wird, um mehr Süße zu erzielen“. Damit sind Edelfäule und Weinlese in mehreren Durchgängen eindeutig bezeugt.

Die Klassifizierung von 1855

Im Anbaugebiet Bordeaux tauchte der Begriff der Lage (cru) in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts auf. Man unterschied seinerzeit schon einige große Weine, die von einem bestimmten Terroir stammten und von Gutsbesitzern erzeugt wurden, die stolz auf die Qualität ihrer Erzeugnisse waren. So war bei den Rotweinen das berühmte Quartett Haut-Brion, Latour, Margaux und Lafite längst bekannt. Auch im Sauternais profitierten die großen Weingüter von dieser inoffiziellen Anerkennung, zu der ihnen ihre Spezialisierung auf die Herstellung von natursüßen Weißweinen aus edelfaulen Trauben verholfen hatte. Als das wirtschaftliche Umfeld für die Bordeauxweine unter der Juli-Monarchie Mitte des 19. Jahrhunderts wieder besser wurde (die Zeit der französischen Revolution und der Herrschaft Napoleons waren wegen des Wegfalls der Exportmöglichkeiten nach England ein Desaster für die Weinwirtschaft in Bordeaux), pflanzte man im Sauternais wieder an, die Weinlese in mehreren Durchgängen wurde allgemein üblich und die neuen Kunden aus Deutschland, Holland und Belgien interessierten sich sehr für natursüße Weine – genauso wie Engländer und Russen, die das Nonplusultra suchten, also Weine aus Sauternes.
Im Unterschied zu anderen Weinbauregionen, wo sich eine Lage über ein Gebiet erstrecken kann, das mehreren Winzern gehört oder sogar zwei bis drei Gemeinden umfasst, bedeutet die Lage oder cru in Bordeaux einen Weinbaubetrieb innerhalb einer kontrollierten Ursprungsbezeichung (AOC), der einen auf dem Betrieb oder einem Teil des Betriebs erzeugten Wein verkauft. Der Begriff „château“ ist im Bordelais zum Synonym für Lage (cru) geworden, auch wenn das Château nur ein bescheidenes Haus ist. Im Sauternais gehört zu den Gutsgebäuden fast immer ein wirkliches Schloss und auch die Wirtschaftsgebäude – ob alt oder ultramodern – sind funktionell und architektonisch gelungen zugleich.

Um 1850 war die Verkehrsgeltung des Begriffs cru schon so weit gediehen, dass die Weine von Yquem, Coutet oder Filhot die Weinmakler lebhaft interessierten und sie in Paris, aber auch von den Königs- und Fürstenhöfen in Mittel- und Osteuropa sehr gesucht waren. Dort hatte sie der sehr aktive und geschickte Marquis de Lur-Saluces eingeführt. Innerhalb von zwanzig Jahren verdoppelte sich der Preis für ein Tonneau (900 l)! Das waren die guten Zeiten, als Weinhändler Focke und Marquis Lur-Saluce vom glücklichen Zufall profitierten, wie man durch zwei durchaus plausible Anekdoten weiß.

Als 1855 im zweiten Kaiserreich zur Weltausstellung in Paris jedes französische Département seine besten Erzeugnisse ausstellen sollte, forderte die Handelskammer Bordeaux die Weinmakler auf, eine Liste mit den besten Weinen vorzulegen. Die Weinmakler wurden zu Recht als neutrale und unabhängige Fachleute betrachtet, die das gesamte Weinbaugebiet gut kannten, alle Weine verkosteten und bei der Preisfestsetzung mitwirkten. Wie Notare waren sie Amtspersonen und wurden durch Ministerialerlass ernannt. In der Präambel zu ihrer Klassifizierung sicherten sie zu, „alle verfügbaren Auskünfte“ eingeholt zu haben. Die Makler besaßen umfangreiche Archive aus früheren Jahrzehnten und stützten sich auf ihre eigenen, erstaunlich präzisen Verkostungsnotizen. Besorgt über die hohe Verantwortung, die man ihnen übertragen hatte, gaben sie vorsichtig ihrer Furcht Ausdruck, dass ihre Liste „Neid erwecken“ könne. Sie diene bloß zur Vorlage für die Entscheidungen der Handelskammer. Bei den Rotweinen wurden nur die Weine aus dem Médoc und Château Haut-Brion in fünf Kategorien klassifiziert. Bei den Weißweinen wurden nur Sauternes und Barsac berücksichtigt. Es gab einen premier cru supérieur, nämlich Château Yquem, das damit über allen Kategorien stand. Es folgten neun premiers crus und elf seconds crus. Mit nur zwei Kategorien schien die Klassifizierung im Sauternais strenger als im Médoc.

Diese hochberühmte Klassifizierung stützte sich in Wahrheit auf mehrere frühere Klassifizierungen, die sich durch die praktizierten Verkaufspreise ergeben hatten. Da sich die Makler damit begnügt hatten, diejenigen Weingüter aufzulisten, deren Weinqualität schon seit Jahren durch den Preis anerkannt war, gab es auch keine Proteste gegen ihre Klassifizierung.
Die Grands Crus Classés von Sauternes und Barsac nutzten voll den indirekten Werbeeffekt. So zahlte 1859 der Bruder des russischen Zaren, Großherzog Konstantin, den Gegenwert von 3049 EUR für ein Tonneau (900 l) Château Yquem 1847. Das war ein irrsinniger Preis, denn vier oder fünf mal höher als für Latour oder Margaux! In den beiden folgenden Jahrzehnten übertrafen die crus aus Sauternes oft die seconds crus aus dem Médoc, mehrmals sogar die premiers crus. Ihre Verkehrsgeltung war anerkannt und der wirtschaftliche Aufschwung des gesamten Anbaugebiets erklärt, warum alte Adelsfamilien wie die Pontac, Sigalas, Rolland und viele andere sich wieder im Sauternais einkauften.

Nach der schrecklichen Reblauskrise, die sich im Sauternais übrigens weniger schnell ausbreitete als anderswo, erlebten die Grands Crus Classés wieder gute Jahre. Zwischen den beiden Weltkriegen waren liebliche und natursüße Weine beim Verbraucher sehr beliebt und deshalb konnte ihnen auch die Wirtschaftskrise 1929 nicht viel anhaben. Ab 1950 trübte sich der Horizont, als sich die Verbraucher ganz von Weißweinen abwendeten und nur noch Rotweine gelten ließen. Die sechziger Jahre waren ebenso getrübt, aber wegen des Wetters. Die Entwicklung und der Ausbau vieler Weingüter wurden damals gestoppt.

Zum Wiederaufschwung kam es in den achtziger Jahren mit dem sehr guten Jahrgang 1983 und dem ausgezeichneten Jahrgang 1986, der den Vergleich mit dem Jahrhundertwein des Jahrgang 1937 nicht zu scheuen braucht. Er ist dem wieder aufflammenden Interesse der französischen und internationalen Presse, aber auch neuen Konsumgewohnheiten zu verdanken. Der entscheidende Grund liegt jedoch im extremen Durchhaltevermögen der meisten Grands Crus und in der Passioniertheit einiger Personen, die sich aller Widrigkeiten zum Trotz im Sauternais eingekauft und ihren Cru liebevoll renoviert haben. Daraus ist eine einfache Lehre zu ziehen: Die Klassifizierung von 1855, die lange vor den kontrollierten Ursprungsbezeichnungen entstanden ist, hat hohes Verantwortungsbewusstsein für den Cru hervorgerufen, das sich von Generation zu Generation fortsetzt. „Nicht gegen die Ehre verstoßen, die uns zuteil wurde,“ scheint die anspruchsvolle Devise der 26 Weingüter zu sein, die sich im Verband der Crus Classés de Sauternes et Barsac zusammengeschlossen haben und fast 45% der Rebfläche sowie 70% des Umsatzes ausmachen.

Speisen und Grands Crus oder die Komplementarität von Essen und Trinken
Ein Grand Crus aus Sauternes oder Barsac darf wegen seines beeindruckenden Charakters und seiner Extravaganz ruhig ganz allein getrunken werden, wie man es in England, Schweden oder Deutschland zur winterlichen Dämmerstunde oder im Sommer in der Gartenlaube schon längst macht.

Einige Pessimisten raunen, dass man nur so diese natursüßen Weine trinken könne, denn ihre extreme Lieblichkeit eigne sich nicht für die meisten Speisen. Heutzutage wird dieses Vorurteil von vielen Liebhabern und einfallsreichen Küchenmeistern widerlegt. Das bedeutet nicht, dass man willkürlich Wein und Essen zusammenstellt, sondern man sucht nach einer fundierten Übereinstimmung auf der Grundlage der Geschmackswahrnehmung oder der Kenntnis exotischer Küchentraditionen, die seit Jahrhunderten Gewürze und Süße, Geflügelfleisch und Süßwein, Getreide und Früchte, Mandeln und Bitterorange aufeinander abstimmen. Dabei unterscheiden wir zwei Arten der Abstimmung: einmal der Gegensatz, wenn die Zutaten der Speisen und der Wein dialektisch im Genuss aufeinanderprallen, und dann die ergänzende Harmonie, wenn gleiche Elemente wie süß zu süß und trocken zu trocken zueinander stoßen. In beiden Fällen trägt jede der Zutaten zur Synergie bei.

Zu Beginn des Essens lädt etwa eine Melone mit ihrer fruchtigen Frische einen Grand Cru ein. Frucht zieht Frucht an und der Wein ragt durch seinen bescheidenen Partner noch mehr heraus. Dies ist eine klassische und unaufgeregte Komplementarität. Ein Foie Gras bestätigt die Ausnahme von der Regel, denn normalerweise verlangt Fett zum Ausgleich die Herbe eines Weißweins. Dennoch passt zu einer Leber, ob kalt oder warm, allein oder mit Trauben oder Äpfeln serviert, bestens zu einem natursüßen Wein. Das Risiko besteht in der gewagten Addition von „fett + fett“. Diese Zusammenstellung ist deshalb so hervorragend, weil die Süße des Weines und das Salz der Leber eine friedliche Antithese bilden. Gleichzeitig wird die kaum spürbare, jedoch sehr präsente Säure des Weines durch das Salz und das Fett der Leber unterstrichen. Kurz gesagt; die Vermählung wird chinesisch gefeiert: salzig + süß + sauer + fett! In einigen Fällen reagiert die delikate Bitterkeit des Weines auf die der Leber, besonders wenn er nur leicht gereift ist.

Das Beispiel von Foie Gras macht Feinschmecker mutig. Probieren Sie einen Sauternes mit einer Quiche, deren leichter Räuchergeschmack sich mit dem empyreumatischen Aroma des Weines mischt, oder mit Hechtklößchen in Nantuasauce. Sehr überzeugend! Aber nur unter der Voraussetzung, dass das Gericht gut gewürzt und raffiniert gekocht ist, was die Benutzung eines Grills ausschließt. Hummer, Krebs, Flusskrebs und Langusten können einen sehr alten Barsac oder Sauternes richtig hervorheben.

Lassen Sie sich auch von Muschelpastetchen verführen. Die von einigen bekannten Küchenchefs der Gironde zubereiteten Ravioli mit Curryaustern, Jakobsmuscheln auf Chicoreestreifen oder Kalbsbries sind genau richtig zu einem ausgereiften Grand Cru.
Das Angebot ist sehr groß. Im letzten Jahrzehnt haben Köche im In- und Ausland die Kombination von Fisch mit Sauternes und Barsac wieder auf die Speisekarte gesetzt. Nur dürfen die Fische nicht fett sein, man muss sie mit einer Mousselinesauce, holländischen oder normannischen Sauce servieren und wissen, wie man mit Gewürzen umgeht. Für diese delikate Kombination eignen sich vor allem Seezunge, Steinbutt, Seeteufel und Barsch.

Zu Geflügel trinkt man normalerweise Rotwein. Im Sauternes weiß man jedoch seit langer Zeit, dass ein natursüßer Weißwein hervorragend zu einem einfach gegrillten Hühnchen oder einem mit Knoblauch gestopften Hühnchen passt. Die mit dem Hühnchen eingekochten Knoblauchzehen heben den Botrytiston besonders hervor. Das Fleisch von gegrillten Hühnchen ist trotz des Bratensafts meistens fettarm. Deshalb passt es sehr gut zu einem gut strukturierten, saftigen und bukettreichen Weißwein. Geflügelgerichte der chinesischen Küche wie auch der von New Orleans dürften am besten passen. Will man noch höher hinaus, dann sollte man ein leicht getrüffeltes Masthuhn in der Schweinsblase oder Ente mit Früchten wie Kirsche, Pfirsich, Trauben oder Orange probieren. Es ist köstlich!

Was Mastentenbrust betrifft… der Geschmack von Pilzen, leichter Trüffel, Knoblauchcreme oder Foie Gras, die man damit kombinieren kann, passt gut zu einem natursüßen Weißwein. Entenbrust kann man mit Kirschen, Birnen und Sauternes zubereiten.
Da Weiß nach Weiß verlangt, sollten wir mutig dumme Verbote beiseite legen und die Gerichte der neuen Küche zur Geltung bringen. Wagen wir einen Sauternes oder einen Barsac zu hellem Fleisch. Kein Problem beim Schweinefleisch, wenn es mit Früchten oder asiatisch zubereitet wird: die Gewürze, die Früchte und alle eingekochten Aromen bereiten unsere Geschmackspapillen auf einen natursüßen Weißwein vor. Unter ähnlichen Bedingungen gilt dies auch für Kalbfleisch. Selbst Gemüsegerichte eignen sich. Die vegetarische Küche verwendet sie gern in einer fast eingekochten Art und Weise wie zum Beispiel Zucchini und Auberginen und zusammen mit Getreide und Käse. Warum nicht einen jungen natursüßen Weißwein dazu probieren?

Zurück zum klassischen Geschmack mit Blauschimmelkäse aus der Auvergne oder Roquefort. Er besitzt die vier Grundaromen und kann wunderbar mit den natursüßen Grand Crus vermählt werden. Man vergisst oft andere Komplementaritäten, wie sie sich mit Maroilles, Münster oder Ziegenkäse aus Frankreich und anderswo ergeben. Natursüßen Wein zu Käse zu trinken, hat den Vorteil, dass die geöffnete Flasche auch zur Nachspeise serviert werden kann. Allerdings nicht zu jedem Dessert. Man muss etwas säuerliche Früchte wie Erdbeeren wählen oder kleine rote Beeren, Kiwis, Orangen, usw… die sich für einen köstlichen Obstsalat eignen. Genauso schätzt man Grand Crus mit vielen Obstorten mit wie Tarte Tatin oder Birnentorte.
Schokolade ist absolut zu vermeiden; Kekse, vor allem Mandelgebäck, passen gut. Und warum nicht einen Grand Cru zu so bescheidenen Nachspeisen wie Crêpes, Waffeln oder arme Ritter genießen?

Claude PEYROUTET

Der Autor dieses Textes Claude PEYROUTET unterrichtete lange an der Landwirtschaftsschule in Bordeaux-Blanquefort und schreibt über Weingüter und Wein. Dabei interessiert er sich speziell für Sauternes. Folgende Bücher wurden von ihm veröffentlicht: „Le Livre du Vin“ und „Le Grand Livre du Bordeaux“ (Verlag Solar), „Les Vins Blancs“ (Verlag Bordas) und „Les Vins de France“, das unter dem symbolischen Pseudonym „Claude Carmenère“ vom Verlag Nathan herausgegeben wurde.